von leuten, die ihre brille verlieren und sich einen porsche kaufen
markus seidel
Es ist neunzehn Uhr vierzig. Ein Mann, er ist etwa Mitte dreißig, fährt auf einem Fahrrad durch die Stadt. Er ist an diesem Abend mit einer Frau verabredet; er besucht sie bei ihr zuhaus. Sie haben sich seit mehr als drei Jahren nicht gesehen. Vor fünf Jahren war der Mann mit dieser Frau liiert, vor zwei Tagen haben sie telefoniert und dieses Treffen ausgemacht, nachdem sie sich kürzlich zufällig in einem Kaufhaus über den Weg gelaufen waren. Auf das sanfte, aber entschlossene Drängen der Frau kam es sowohl zu dem Telefonat als auch zu der heutigen Verabredung. Während der Mann durch die Stadt fährt, denkt er an die Frau, die er gleich sieht, und an ihre gemeinsame Zeit. Er befürchtet, dass er ihr am heutigen Abend nicht wird widerstehen können, denn er begehrt sie noch immer, auch nach fünf Jahren noch. Und er weiß, dass es ihr ebenso geht. Während aber die Frau frei ist und ungebunden, ist der Mann verlobt, die Heirat soll in einem halben Jahr stattfinden. Zweierlei beschäftigt ihn ohne Unterlass, während er auf seinem Rad sitzt und durch die Stadt fährt: Das eine ist die kaum zu bändigende Lust auf die Frau, die er gleich sehen wird. Das andere ist das schlechte Gewissen, das ihn plagt, denn die Lust auf die Frau betrachtet er angesichts seiner im großen und ganzen intakten Beziehung respektive seiner bevorstehenden Heirat als etwas, das es unbedingt zu unterbinden gilt, während er doch vollkommen außerstande ist dazu. Denn anstatt umzudrehen, nach Haus zu fahren und die Frau nicht zu sehen, tritt er noch ungeduldiger in die Pedale. Er denkt an die Frau daheim, die er bald heiraten wird, und er denkt an die Frau, die jetzt auf ihn wartet, in wachsender Lust auf ihn. Vor dem Haus, in dem die Frau wohnt und das er schließlich erreicht, hat sich eine Menschentraube versammelt, der Mann steigt in dunkler Ahnung vom Rad, und dann wird ihm mitgeteilt, dass die Frau bei dem Versuch, ihren Hund, der, während sie im Garten arbeitete, unvermittelt auf die Straße gerannt war, wieder einzufangen, von einem Wagen erfasst und zehn Meter durch die Luft geschleudert worden war, wobei der eilig herbeigerufene Notfallarzt nur noch ihren Tod feststellen konnte. Der Mann steigt wieder auf sein Rad und tritt den Heimweg an, zurück zu seiner Verlobten, die er in einem halben Jahr zu heiraten gedenkt, und als er etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hat, geht ein Lächeln der Erleichterung über sein Gesicht, und er muss sich eingestehen, dass er glücklich ist.